Gnade durch Menschen
Der Schreiber des Hebräerbriefs sagt uns: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der vom Gefühl unserer Schwachheiten nicht berührt werden kann; sondern der in allen Punkten versucht worden ist wie wir es sind, doch ohne Sünde“ (Hebräer 4,15; a. d. englischen King James Version).
Die meisten Christen sind mit diesem Vers vertraut. Er sagt uns, dass unser Hoherpriester, Jesus, unsere Leiden mit uns mitfühlt. Das griechische Wort für „berührt“ hier bedeutet „Mitgefühl, resultierend aus dem Erfahren desselben Leids“. Mit anderen Worten: Unser Herr wird berührt von jedem Unheil, Schmerz, jeder Konfusion und Verzweiflung, die uns widerfahren. Es gibt nichts das wir erlebt haben, was er nicht auf die ein oder andere Weise auch durchgemacht hat.
Weil wir solch einen großen Hohenpriester haben, werden wir angewiesen: „Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe!“ (4,14-16). Uns wird gesagt: „Dein Erlöser weiß genau, durch was du gerade gehst. Und er weiß genau, wie man dir mit seiner Gnade dient.“ Meine Frage ist: Wie können wir, wenn wir in einer Zeit großer Not sind, „Gnade finden“, wie es der Hebräerbrief hier vorschlägt?
Ich habe von den meisten theologischen Definitionen von Gnade gehört: unverdiente Gunst, die Güte Gottes, seine besondere Liebe. Aber Gnade nahm für mich im letzten Dezember eine andere Bedeutung an, als meine elfjährige Enkelin Tiffany sich Tests auf einen möglichen Gehirntumor hin unterzog. Meine Frau Gwen und ich waren mit unserer Tochter Debbie und ihrem Mann Roger an dem Tag im Krankenhaus, als die Ärzte bei unserer geliebten Enkelin Tests durchführten. Als wir dort standen und warteten, um die Ergebnisse zu hören, war alles, was wir tun konnten, um Gnade zu beten.
Es war alles so plötzlich geschehen. Erst einen Tag zuvor hatten Debbie und Roger uns angerufen, als sie ihre Tochter zum Arzt brachten, damit wir für Tiffany beten. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen bekommen, und hatte sie begonnen, aus einem Auge zu bluten. Als wir auflegten, sagte ich zu Gwen: „Das Leben ist so zerbrechlich. Ein einziger Telefonanruf kann deine ganze Welt auf den Kopf stellen.“
Am nächsten Tag, als wir im Krankenhaus in Virginia ankamen, sahen Gwen und ich überall in den Korridoren verzweifelte Eltern. Sie hatten einen sorgenvollen Gesichtsausdruck, als sie sich auf möglicherweise schlechte Nachrichten wegen ihrer Kinder vorbereiteten. Oft, wenn sie das furchtbare Wort – „Er ist bösartig“ – erreichte, schrien manche in Agonie auf und zerbrachen völlig.
Während wir alle warteten, um Tiffanys Laborbericht zu hören, betete ich still um die Kraft, das akzeptieren zu können, was immer der Befund war. In jenem Augenblick war mir egal, was die theologische Bedeutung von Gnade war. Für mich bedeutete sie, Gottes Frieden zu haben und jede Nachricht erhalten zu können, ohne panisch zu werden. Ich betete: „Herr, wir wissen, dass du alle Dinge recht machst. Wir setzen unser Vertrauen auf dich. Lass uns nicht mit unseren Lippen sündigen. Gib uns deine Gnade, um dies zu ertragen.“
Dann kam der reißende Strom schlechter Nachrichten: Tiffany hatte einen großen Tumor, einen der schlimmsten Art. Er war bösartig.
Ich hatte dieses furchtbare Wort „bösartig“ schon vorher achtmal gehört. Gwen, Debbie und unsere jüngere Tochter Bonnie hatten alle gegen Krebs gekämpft. Dem Herrn sei Dank, dass sie jede dieser schrecklichen Qualen überlebt haben. Doch jedes Mal, wenn wir die schlimmen Berichte erhielten, war es für mich die schlimmste Nachricht, die mir irgendjemand hätte mitteilen können. Ich kann Ihnen nicht sagen, durch was Gwen und ich in jenem Augenblick wegen unserer Enkelin Tiffany gingen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass mein Schmerz mich zum Buch Hiob trieb.
Hiob war ein gottgefälliger Mann, dessen Familie ihm sehr nahe stand. Er und seine Frau hatten zehn erwachsene Kinder, sieben Söhne und drei Töchter. Hiob betete täglich über seinen Kindern und brachte ihretwegen Opfer dar. „Denn Hiob sagte <sich>: Vielleicht haben meine Söhne gesündigt und in ihrem Herzen Gott geflucht. So machte es Hiob all die Tage“ (Hiob 1,5).
Hiob hatte keine Ahnung, was zu jener Zeit im Himmel zwischen Gott und Satan vor sich ging. Er wurde niemals gewarnt, dass plötzliches Unheil im Begriff stand, seine Familie zu treffen. Und die Bibel malt eine grauenhafte Szene: Innerhalb der Zeitspanne eines einzigen Tages verlor Hiob nicht nur seine Diener und seine Besitztümer, sondern alle zehn seiner Kinder starben bei einer Naturkatastrophe (siehe Hiob 1,13-22).
Versuchen Sie, sich den tragischen Verlust Hiobs und seiner Frau vorzustellen. Innerhalb weniger Stunden wurde alles Kostbare aus ihrem Leben gerissen: jeder geliebte Sohn und jede geliebte Tochter, jeder geschätzte Knecht, und jede geschätzte Magd. Doch selbst in seiner großen Trauer und Bedrängnis entschied sich Hiob dafür, nach der guten Alternative zu reagieren. Seine trauernde Frau wählte die falsche.
Hiobs Frau musste verbittert gewesen sein, als sie mithörte, wie ein Bote sagte: „Feuer Gottes fiel vom Himmel, brannte ... und verzehrte“ (1,16). Als die schreckliche Botschaft sackte, weigerte sie sich, getröstet zu werden. Und sie klagte Gott in törichter Weise an und drängte ihren Mann: „Fluche Gott und stirb!“ (Hiob 2,9). Sie sagte damit im Wesentlichen: „Warum wollte der Herr eine so unvorstellbare Tragödie über diese gottgefällige Familie bringen?“
Ich persönlich kann Hiobs Frau diese Reaktion nicht vorwerfen. Wenn ich alle meine Kinder und Lieben an einem einzigen Nachmittag verloren hätte, könnte ich mein Herz in demselben Zustand vorfinden wie ihres. Ich glaube, dass, als die Schreckensmeldungen kamen, Hiobs Frau innerlich einfach starb. Sie war physisch noch am Leben, aber in ihrem Herzen war sie dahingegangen.
Doch es sollte noch eine weitere Tragödie kommen. Schon bald wurde ihr Mann von Kopf bis Fuß von schmerzhaften Beulen heimgesucht. Hiob saß schließlich nur noch auf einem Aschehaufen und kratzte an seinem Fleisch mit abgebrochenen Tonscherben, um seinen Schmerz zu lindern. Der Anblick dieses kranken Mannes war so grausig, dass die Menschen sich mit Entsetzen abwandten. Selbst Hiobs Freunde erkannten ihn zuerst nicht. Und als sie es taten, waren sie nicht in der Lage, ihn anzusehen. Sie saßen in einiger Entfernung von ihm und trauerten und weinten über das, was ihrem Freund geschehen war.
Inzwischen muss Hiobs Frau völlig benommen gewesen sein. Sowohl ihre Erinnerungen an fröhliche Familienzusammenkünfte als auch ihre Hoffnungen für die Zukunft waren zerschlagen worden. Ihre gesamte Welt um sie herum war zusammengebrochen. Sie würde nie wieder eine solche Freude oder Hoffnung erleben. Jetzt starb alles in ihr: Liebe, Hoffnung, Glaube. Und Zorn und Unglauben erfüllte ihre Seele.
Auch Hiob trauerte tief. Dieser Mann hatte ein großes Bedürfnis nach einem tröstenden Wort. Doch stattdessen explodierte seine Frau ihm gegenüber und sagte: „Hältst du noch fest an deiner Vollkommenheit?“ (Hiob 2,9). Zwei Dinge lassen sich aus diesen schneidenden Worten der verzweifelten Frau schließen. Erstens fragte sie: „Welche furchtbare, verborgene Sünde hast du begangen, Hiob, dass du ein so schreckliches Gericht von Gott über uns bringst? Versuche nicht, mich zu überzeugen, dass du noch ein Mann der Vollkommenheit bist.“
Zweitens schloss sie: „Also, ist es das, wie Gott eine rechtschaffene Familie behandelt? Wir haben jahrelang jeden Tag einen Familienaltar errichtet. Wir sind vollkommen rechtschaffen vor dem Herrn gewandelt. Und wir haben unseren Überfluss dazu benutzt, die Armen zu segnen. Warum sollte der Herr uns all dessen berauben, was uns kostbar ist? Ich kann keinem Gott dienen, der erlauben würde, dass uns so etwas geschieht.“
Dann äußerte diese aufgelöste Frau die furchtbaren Worte: „Fluche Gott und stirb!“ (Hiob 2,9). Sie erkannte damit an: „Ich bin schon tot, Hiob. Was ist für mich noch übrig? Es ist besser zu sterben, als ohne unsere Kinder zu sein. Also, komm schon. Fluche Gott und stirb an meiner Seite.“
Ihr Zustand illustriert die erbitterte Schlacht gegen den Feind, mit der jeder von uns konfrontiert wird, wenn uns eine Tragödie trifft. Ich sah diese Schlacht vor kurzem bei einer jungen Frau, neben der ich im Flugzeug saß. Ich bemerkte, wie sie leise weinte. Also sagte ich ihr, dass ich ein Geistlicher wäre und fragte, ob ich helfen könnte. Sie erwiderte: „Sir, ich kann einfach nicht an Ihren Gott glauben.“
Sie erzählte mir, dass ihr Vater ganz plötzlich gestorben war. Sie beschrieb ihn als einen guten Mann, der immer etwas von sich hingegeben hatte, um anderen zu helfen. Jetzt, unter bitteren Tränen, sagte mir diese Frau: „Ich kann nicht an einen Gott glauben, der einen guten Vater in der Blüte seines Lebens sterben lässt.“ Sie hatte die schreckliche Alternative der Frau Hiobs gewählt: Sie beschuldigte Gott und hatte nun begonnen, in die Verzweiflung zu trudeln. Obwohl sie physisch lebte, war sie innerlich tot.
Obwohl auch Hiobs Trauer „sehr groß“ war (Hiob 2,13), vertraute er Gott mitten in seinem Kummer und Schmerz. Wie seine trauernde Frau sehnte auch er sich danach, zu sterben. Seine Verzweiflung war so überwältigend, dass er wünschte, er wäre nie geboren worden. Doch in all dem erklärte Hiob: „Obwohl er mich erschlägt, will ich doch auf ihn vertrauen“ (Hiob 13,15; a. d. englischen King James Version).
Hiob sagte damit praktisch: „Es kommt nicht darauf an, ob diese Beulen mich in mein Grab bringen. Ich werde hinausgehen und auf den Herrn vertrauen. Ich werde niemals mein Vertrauen aufgeben, dass er weiß, was er tut. Auch wenn ich von dieser Tragödie nichts verstehe, weiß ich, dass Gott eine ewige Absicht hat. Selbst wenn er beschließt mich zu erschlagen, werde ich ihm bis zu meinem letzten Atemzug vertrauen.“
Wie David habe ich manchmal Trauer bis an den Punkt der Tränen ausgedrückt. David schrieb: „Hätte ich doch Flügel wie die Taube, ich wollte hinfliegen und ruhen ... Ich wollte eilen, dass ich Zuflucht hätte vor dem heftigen Wind, vor dem Sturm“ (Psalm 55,7.9). Doch ich gebe zu, dass ich nie Trauer erlebt habe wie die Hiobs. Ich bin nie an den Punkt gekommen, mir zu wünschen, ich wäre tot.
In jenem Krankenhaus in Virginia sahen Gwen und ich Beispiele für beide Arten von Reaktionen. Die Fälle waren so tragisch: Ein zweijähriges Kind war 21 Stockwerke hinuntergefallen und wurde wegen eines schweren Kopftraumas behandelt. Ein anderes kritisch verletztes Baby wurde schnell mit dem Helikopter ins Krankenhaus gebracht. Ein zerbrechliches, kleines Mädchen, blass und schwach, ging an uns vorüber und schob ihren Infusionsständer. Ein anderes kleines Mädchen war ausgeflippt und redete Unsinn.
Gewöhnlich konnten wir sagen, welche Eltern dieser leidenden Kinder Christen waren. Als wir an einigen dieser Räume vorübergingen, spürten wir einen großen Frieden. In jenen Fällen spürten wir, dass Gottes bewahrende Kraft am Werk war, während die Eltern sich auf Gottes Wort stützten und darin ruhten.
Aber in anderen Räumen herrschten äußerstes Chaos und Durcheinander. Wir konnten die Hoffnungslosigkeit mancher Eltern sogar spüren. Sie beschuldigten Gott und fragten: „Warum sollte ein guter Gott so etwas erlauben?“ Wir sahen sie die Korridore auf und ab gehen und sich zornig fragten: „Warum, warum, warum?“
Wenn Ihr Unheil kommt, müssen Sie eine Entscheidung treffen. Sie können sauer auf Gott werden und ständig fragen: „Warum?“ Oder Sie können sagen: „Herr, egal, was geschieht, ich weiß, dass du die Gnade und Kraft hast, mich zu bewahren.“ Als Nachfolger Jesu müssen wir einfach zu unserem Hohenpriester laufen, um die Barmherzigkeit und den Trost des Heiligen Geistes zu erhalten. Und wir müssen auf Gottes allwissende Gnade vertrauen. Manchmal mögen wir weinen, trauern und uns wünschen, zu sterben. Wir mögen nicht in der Lage sein, zu schlafen, unsere Gedanken mögen von Fragen zermürbt werden. Doch Gott erlaubt, dass wir durch jede dieser Dinge gehen. Sie alle sind Teil seines Heilungsprozesses.
Aber wie genau finden wir diese Gnade, die uns in Zeiten der Not helfen soll? Wie wird uns diese Gnade zugeteilt? Wenn wir inmitten einer Krise stecken, können wir uns nicht auf irgendeine nebulöse theologische Definition verlassen. Wir brauchen Gottes sehr reale Hilfe. Wie bekommen wir diese Gnade in unser Herz, unsere Seele, unseren physischen Körper, wenn wir verletzt sind?
Ich glaube, dass wir auf mindestens zwei wundersame Arten von Gottes Gnade berührt werden:
Durch die ganze Schrift hindurch kamen die größten Offenbarungen der Güte Gottes zu den Menschen in ihren Zeiten der Schwierigkeiten, des Unheils, der Isolation und der Härten. Wir finden ein Beispiel dafür im Leben von Johannes. Drei Jahre lang war dieser Jünger „an der Brust Jesu“. Es war eine Zeit äußerster Ruhe, des Friedens und der Freude, ohne Schwierigkeiten und Prüfungen. Doch in all jener Zeit empfing Johannes sehr wenig Offenbarung. Er kannte Jesus nur als den Menschensohn. Also, wann empfing Johannes seine Offenbarung Christi in all seiner Herrlichkeit?
Dies geschah erst, nachdem Johannes in Ketten aus Ephesus geschleppt wurde. Er wurde auf die Insel Patmos verbannt, wo er zu harter Arbeit verurteilt war. Er war isoliert, ohne Gemeinschaft, ohne Familienangehörige oder Freunde, die ihn trösten konnten. Es war eine Zeit äußerster Verzweiflung, der tiefste Punkt seines Lebens.
Doch hier empfing Johannes die Offenbarung seines Herrn, die das abschließende Element der Heiligen Schrift werden würde: das Buch der Offenbarung. Mitten in dieser dunklen Stunde kam das Licht des Heiligen Geistes zu ihm. Und Johannes sah Jesus, wie er ihn niemals gesehen hatte. Er sah Christus buchstäblich als den Sohn Gottes.
Johannes hatte diese Offenbarung nie empfangen, während er bei den anderen Aposteln war, und nicht einmal während den Tagen Jesu auf Erden. Doch nun, in seiner dunkelsten Stunde, sah Johannes Christus in all seiner Herrlichkeit, der erklärte: „Ich bin der, der lebt, und ich war tot; und, siehe, ich bin lebendig in Ewigkeit, Amen; und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes“ (Offenbarung 1,18; a. d. englischen King James Version). Diese unfassbare Offenbarung ließ Johannes auf sein Angesicht fallen. Aber Jesus richtete ihn auf und er zeigte ihm das Schlüsselpaar, das er in der Hand hielt. Und er beruhigte Johannes: „Fürchte dich nicht!“ (1,17).
Ich glaube, diese Offenbarung kommt zu jedem betenden, verletzten Diener in seiner oder ihrer Zeit der Not. Der Heilige Geist sagt: „Jesus besitzt alle Schlüssel über Leben und Tod. Also liegt auch jedermanns Weggang in seinen Händen. Deshalb kann Satan Sie oder irgendein Mitglied Ihrer Familie niemals wegnehmen. Christus allein entscheidet über unser ewiges Schicksal. Also, wenn er einen Schlüssel umdreht, dann gibt es einen Grund dafür. Und diesen Grund kennen nur er selbst, der Vater und der Heilige Geist.“
Diese Offenbarung soll Frieden in unsere Herzen bringen. Wie Johannes sollen wir Jesus bildhaft vor uns stehen sehen, wobei er die Schlüssel über Leben und Tod in der Hand hält und uns versichert: „Hab keine Angst. Ich besitze alle Schlüssel.“ Wie soll unsere Reaktion sein? Wie Hiob sollen wir im Glauben sagen: „Der HERR hat gegeben, und der HERR hat genommen, der Name des HERRN sei gepriesen!“ (Hiob 1,21).
Ein beunruhigter Geistlicher schrieb folgendes: „Vor fünfzehn Jahren hatte meine Frau Brustkrebs. Nun ist bei ihr Pankreaskrebs diagnostiziert worden. Sie muss vielleicht in einem Hospiz untergebracht werden. Vierzig Jahre lang haben wir an Gottes Werk mitgearbeitet. Ich muss mich fragen: War all diese Arbeit umsonst? Zählt sie denn gar nicht? Will Gott uns keine Pause gewähren?“
Ich sage diesem lieben Bruder: Ich glaube, dass gerade jetzt, in deiner dunkelsten Stunde, Jesus dir seine Gottheit offenbaren will. Ja, du bist tief verletzt. Aber wenn du ihm mitten in deinem Schmerz vertraust, wirst du zu einer Offenbarung kommen, die dir die Augen für Dinge öffnen wird, die du nie gesehen oder verstanden hast. Und du wirst vom Herrn benutzt werden, um vielen anderen zu helfen.
Die Bibel erzählt uns, dass Jakob eine unfassbare Offenbarung empfing, in einer Begegnung mit Gott von Angesicht zu Angesicht: „Jakob gab der Stätte den Namen Pnuël; denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden!“ (1. Mose 32,31). Was waren die Umstände, die diese Offenbarung umgaben? Es war der tiefste und beängstigendste Augenblick in Jakobs Leben. Zu dieser Zeit war Jakob gefangen zwischen zwei starken Mächten: seinem wütenden Schwiegervater Laban und seinem feindseligen, verbitterten Bruder Esau.
Jakob hatte gerade mehr als zwanzig Jahre für Laban gearbeitet, der ihn immer wieder betrogen hatte. Schließlich hatte Jakob genug. Also nahm er seine Familie und floh, ohne es Laban zu sagen.
Laban jagte mit einer kleinen Armee von Osten heran, bereit, Jakob zu töten. Doch erst als Gott Laban in einem Traum warnte, Jakob keinen Schaden zuzufügen, ließ Laban seinen Schwiegersohn gehen. Allerdings, als Laban kaum von der Bildfläche verschwunden war, kam Esau vom Westen. Auch er führte eine kleine Armee von etwa 400 Männern an und war bereit, seinen Bruder wegen Diebstahls seines Geburtsrechtes zu töten.
Jakob sah sich totalem Unheil gegenüber, war überzeugt, dass er im Begriff stand, alles zu verlieren. Die Dinge sahen äußerst hoffnungslos aus. Doch in jener dunklen Stunde hatte Jakob eine Begegnung mit Gott wie niemals zuvor. Er rang mit einem Engel, den Gelehrte für den Herrn selbst halten. Und später erklärte er: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist gerettet worden!“ (1. Mose 32,31).
Denken Sie nun wieder an Hiob. Dieser Mann war auch an seinem tiefsten Punkt. Er hatte überwältigenden Kummer, quälenden physischen Schmerz und äußerste Ablehnung durch seine Freunde ertragen. Doch in Jakobs dunkelster Stunde erschien ihm Gott in einem Wirbelwind. Und der Herr gab diesem Mann eine der größten Offenbarungen seiner selbst, die durch einen Menschen jemals bezeugt wurden.
Gott nahm Hiob hinauf in den Kosmos und dann hinab in die Tiefen des Meeres. Er führte ihn in die ureigensten Geheimnisse der Schöpfung ein. Und Hiob sah Dinge, die kein Mensch jemals gesehen hatte. Ihm wurde die äußerste Herrlichkeit und Majestät Gottes gezeigt. Und Hiob ging Gott preisend aus dieser Erfahrung hervor, wobei er sagte: „Ich weiß jetzt, dass du alles tun kannst, Herr. Ich tue Buße dafür, dass ich dein Urteil hinterfragt habe. Ich sehe, dass alles unter deiner Kontrolle ist und durch deine Gnade gelenkt wird. Du hattest die ganze Zeit einen Plan. Ich hatte vorher nur von dir gehört, aber nun habe ich dich sogar mit meinen Augen gesehen“ (siehe Hiob 42,2-5).
Etwas Wundersames geschieht, wenn wir einfach vertrauen. Ein Friede kommt über uns, der uns befähigt, zu sagen: „Es kommt gar nicht darauf an, was bei dieser Qual herauskommt. Mein Gott hat alles unter Kontrolle. Ich brauche nichts zu fürchten.
Sie mögen einwenden: „Aber ich hätte es lieber, wenn Gott alles regeln würde, und meinen Schmerz und Kummer beseitigen würde. Ich würde mich gern mit weniger Offenbarung begnügen.“ Nein, die Offenbarung, die Ihnen gegeben wird, soll mehr bezwecken, als Sie nur zu trösten. Sie soll Sie zu einem Gnadengeber machen, damit Sie anderen Menschen die heilende Gnade Gottes zuteilwerden lassen.
Gott gebraucht oft Engel, um Leuten zu dienen. Aber meistens gebraucht er seine eigenen fürsorglichen Leute, um seine Gnade zuteilwerden zu lassen. Dies ist ein Grund, warum wir zu Teilhabern seiner Gnade gemacht wurden: damit wir Kanäle für sie werden. Wir sind sollen sie anderen zuteilen. Ich nenne dies „Gnade durch Menschen“.
„Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi gegeben worden“ (Epheser 4,7). Durch den Trost, der uns durch Gottes Gnade gegeben wird, ist es jedem von uns unmöglich, unser Leben lang mit dem Trauern fortzufahren. An irgendeinem Punkt, an dem wir durch den Herrn geheilt werden, beginnen wir, ein Reservoir der Gnade Gottes aufzubauen.
Ich glaube, das ist es, was Paulus meinte, als er schrieb: „Dessen Diener ich geworden bin nach der Gabe der Gnade Gottes ... den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen“ (Epheser 3,7-8). „Ihr alle seid Teilhaber an meiner Gnade“ (Philipper 1,7; a. d. englischen King James Version). Der Apostel macht hier eine tiefgründige Aussage. Er sagt: „Wenn ich zu Gottes Thron gehe, um Gnade zu erlangen, geschieht dies um euretwillen. Ich möchte ein barmherziger Hirte für euch sein, nicht ein richtender. Ich möchte fähig sein, euch in eurer Zeit der Not Gnade zuteilwerden zu lassen.“ Gottes Gnade machte Paulus zu einem mitfühlenden Hirten, der mit jenen weinen konnte, die trauerten.
Petrus schreibt: „Wie jeder eine Gnadengabe empfangen hat, so dient damit einander als gute Verwalter der verschiedenartigen Gnade Gottes!“ (1. Petrus 4,10). Was bedeutet es, ein guter Verwalter oder Zuteilender der vielfältigen Gnade Gottes zu sein? Bin ich ein solcher Mensch? Oder verbringe ich meine Zeit damit, nur für meinen eigenen Schmerz, meine eigene Trauer und meine eigenen Kämpfe zu beten?
Als wir mit Tiffany im Krankenhaus waren, sahen wir des Herrn „Gnade durch Menschen“ in Aktion. Debbie und Roger wurden von der Gemeinde, der sie beigetreten waren, mit Liebe überflutet. Die Unterstützung für unsere Familie durch jene Heiligen, die von einem gottgefälligen Pastor und seiner Frau geleitet wurden, war unfassbar. Gnade strömte aus allen Richtungen hervor: Leute brachten Debbie und Roger Mahlzeiten. Andere brachten Plüschtiere für Tiffany. Eine Gruppe sagte: „Wir möchten kein Störfaktor sein. Wir sind nur gekommen, um zu beten.“ Also blieben sie vor Tiffanys Zimmer stehen und taten Fürbitte.
Ich sah dieselbe „Gnade durch Menschen“ aus der Times Square Church strömen, als wir nach Hause zurückkehrten. Pastor Carter Conlon hatte eine Nachricht auf unserem Anrufbeantworter hinterlassen, die besagte: „David und Gwen, wir lieben euch. Diese Kirche fastet und betet für Tiffany.“ Später, als ich durch die Straßen New Yorks ging und mich aus Kummer schwer fühlte, sah mich unser Pastor Neil Rhodes. Er hielt an und sagte: „Pastor David, du und deine Familie werden so geliebt. Wir alle stehen hinter euch.“ Mein Geist wurde durch die Gnade, die mir gegeben wurde, aufgerichtet.
Ich sah dieselbe „Gnade durch Menschen“ auch im Wartezimmer jenes Krankenhauses in Virginia. Als ich mit Roger und Debbie über Tiffanys Operation sprach, kam eine verstörte Mutter herein. Sie setzte sich auf das Sofa und sah völlig untröstlich aus. Als ich sie fragte, was nicht in Ordnung sei, sagte sie: Vor ein paar Wochen hat die Leber meines fünfzehnjährigen Sohnes aufgehört, zu funktionieren. Wenn er kein Transplantat bekommt, wird er nur noch wenige Wochen leben.
Ich fragte die Frau, ob wir für sie beten könnten. Sie sagte ja, also begann ich zu beten. Nach einer Minute ungefähr, nahm ich eine Unruhe wahr, also hörte ich auf und blickte auf. Debbie saß neben der Frau. Sie klammerten sich aneinander – weinten zusammen, tätschelten einander die Schultern, trösteten einander.
Dann begann Debbie für die Frau zu beten. Ich wusste, dass dieses Gebet aus der eigenen Verletzung meiner Tochter hervorkam. Und ich erkannte, dass ich hier Zeuge wirklicher „Gnade durch Menschen“ wurde. Meine Tochter und diese leidende Frau waren in einer Umarmung geteilten Schmerzes zusammengeschlossen.
Geliebte, unsere gegenwärtigen Leiden erzeugen etwas Kostbares in unserem Leben. Sie formen in uns einen Schrei um die Gabe der Barmherzigkeit und Gnade, um sie anderen anzubieten, die verletzt sind. Unsere Leiden bewirken in uns, Gnadengeber werden zu wollen.
Ich denke, das ist es, warum ich so beunruhigt war, als ich kürzlich das Buch Hiob las. Ich war verärgert, als ich sah, wie schlecht Hiobs sogenannte Freunde ihn inmitten seiner Trauer behandelten. Auf eine Seite der Bibel nach der anderen schrieb ich: „Wie grausam! Wie furchtbar!“ Diese Männer sagten Hiob: „Wenn du lauter und aufrichtig bist, ja, dann wird er deinetwegen aufwachen und die Wohnung deiner Gerechtigkeit wiederherstellen“ (Hiob 8,6). „Du hast Gott vergessen, Hiob. Du bist ein Heuchler“ (siehe 8,13; a. d. englischen King James Version). „Du bist voll von leerem Gerede und Lügen“ (siehe 11,2-3). „Du erhältst weniger als deine Sünde es verdient“ (siehe 11,6; a. d. englischen King James Version).
Vor einigen Monaten gab ich eine Botschaft heraus mit dem Titel: „Du brauchst deine Bedrängnisse nicht zu verstehen – Du hast Gnade“. Anschließend erhielt ich mehrere verletzende Briefe von Lesern. Sie schrieben im Wesentlichen: „Streichen Sie mich von Ihrer Adressliste. Sie mögen nicht verstehen, warum Sie so viel leiden, aber ich verstehe es. Sie haben keinen Glauben. Ich will nichts mit Ihrer Art von Evangelium zu tun haben. Sie sollten Macht über Ihre Bedrängnisse haben.“
Offensichtlich wurden diese Antworten nicht im Geist Christi gegeben. Sie waren schlicht nicht von der Gnade und Barmherzigkeit gekennzeichnet, die unseren Herrn charakterisieren. Manche Leute beziehen sogar eine Art grausamer Genugtuung aus dem Leiden eines anderen Menschen. Als Debbie ihre erste Krebsattacke durchmachte, forderten sie die Leiter ihrer Kirche auf, auszutreten. „Du bist kein Zeugnis für die heilende Kraft Gottes“, erklärten sie.
Diese Art hartherziger Worte lassen mich mit Paulus herausschreien: „Herr, mache mich zu einem Gnadengeber. Lass mich deine Barmherzigkeit erleben, damit ich sie anderen zeigen kann.“ Ich habe keinen Zorn auf diese armen, getäuschten Seelen. Ich weiß, dass leider eine Zeit kommen wird, in der sie sich ihrem eigenen Unglück und Kummer gegenübersehen werden. Und sie werden keine inneren Ressourcen haben, um damit umzugehen.
Auf der anderen Seite wurde Hiob zu einem Gnadengeber. Weil dieser Mann sich in all seiner Qual an sein Vertrauen auf Gott klammerte, war er fähig, seiner verbitterten Frau Gnade zu geben. Dies ist noch bemerkenswerter, wenn Sie bedenken, in welchem toten Zustand diese Frau war. Wären Sie bei ihr gewesen, als sie die furchtbare Nachricht über ihre Kinder hörte, würden Sie gedacht haben: „Sie wird sich dem niemals mehr entziehen können. Sie wird niemals wieder lächeln oder ein normales Leben führen.“
Doch danach dauerte es nicht lange, bis Freude und Lachen wieder ihr Haus erfüllte. Sie sah, dass ihr Mann von seiner Krankheit geheilt war. Und sie brachte zehn weitere Kinder zur Welt: sieben Söhne und drei Töchter, genau wie zuvor. Alles wurde wiederhergestellt, und noch mehr.
Hiob und seine Frau nannten ihre erste Tochter Jemima, was „warme, liebevolle, kleine Taube“ bedeutet. Man kann von einem Bild für die Gnade Gottes sprechen: Dieselbe Frau, die ihren Mann aufgefordert hatte, Gott zu verfluchen, wurde nun mit einer liebevollen, kleinen Taube gesegnet, die Frieden in ihr Haus brachte.
Hiobs Frau kam nicht nur zurück ins Leben, sondern sie lachte und freute sich auch wieder. Es ist offenkundig, sie konnte die Vergangenheit niemals vergessen. Aber nun wurde ihr eine ganz neue Welt des Segens und der Freude eröffnet. Und der rechtschaffene Hiob lebte weitere 140 Jahre. Die Schrift sagt, dass dieser gottesfürchtige Mann lebte, um „Kinder und seine Kindeskinder, vier Generationen“ zu sehen (Hiob 42,16).
Gottes Wort versichert uns: „Weinen bleibt über Nacht, und am Morgen ist Jubel da“ (Psalm 30,6; mit Fußnote). Und das alles geschieht durch Gnade!
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Bibelstellen – soweit nicht anders angegeben – nach der Elberfelder Bibel 2006. Die angegebenen Versnummern können bei einigen Bibelausgaben abweichen.