Gottes Güte
Gottes Güte lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen. Sie übersteigt unser Begriffsvermögen, doch sie segnet uns in jedem Augenblick unseres Lebens. Seine Güte lässt sich nicht definieren, doch wir wissen durch die Bibel und den Heiligen Geist, dass sie wahr ist. Wie sollte ein Mensch je die atemberaubende Güte Gottes begreifen?
Das alles wirft eine ernste Frage auf: Ist Gottes Güte wirklich das, was wir darunter verstehen? Gott hat viele Eigenschaften, mit denen Christen sich nicht gerade gern beschäftigen. In der Bibel lesen wir von seinem Gericht, seinem Zorn, seiner Gerechtigkeit und seiner Vergeltung. Schon die bloße Erwähnung dieser scheinbar „harten“ Züge Gottes lässt viele Menschen vor Angst erschauern. Doch wenn der Herr gut ist und diese Eigenschaften ihn beschreiben, dann müssen wir auch sie als gut verstehen.
Warum also verschließen wir die Augen vor den „harten“ Merkmalen? Warum haben sie nicht die Wirkung, uns näher zum Herrn zu bringen, sodass wir ihn in seinem ganzen Sein anbeten als „die wahren Anbeter [die] den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4,23). Sind nicht auch diese Wesenszüge Teil der Güte Gottes?
Die erste Tatsache, die wir über Gottes Güte feststellen können, ist, dass alle seine Eigenschaften Aspekte seines einen, in höchstem Maße guten Wesens sind
Gottes allumfassende Güte gibt uns zum Beispiel die Gewissheit, dass seine Gerechtigkeit wichtig ist. Sie zeigt uns auch, dass sein Zorn nichts Schlechtes, sondern etwas Gutes ist. Hinzu kommt, dass seine Eigenschaft der Heiligkeit unser Sein und unser Begriffsvermögen übersteigt; doch Gott setzt sie in unserem Herzen frei, damit sie unser Leben verwandelt.
Wenn Pastoren jedoch über diese unpopulären Eigenschaften Gottes predigen, denken manche Christen: „Ich bin froh, wenn diese Predigtreihe vorbei ist. Ich würde gern mal etwas Prak-isches für mein Leben hören.“ In Wirklichkeit hat jeder Aspekt des göttlichen Charakters praktische Implikationen für unser Leben, auch die unpopulären, weil jede Eigenschaft Gottes aus seiner Güte entspringt.
Ein theologischer Begriff könnte hier hilfreich sein. Man spricht von der „Einfachheit“ Gottes, was im Wesentlichen ausdrückt, dass Gott einer ist, dass er nicht in verschiedene Seiten aufgesplittet werden kann. Er ist nicht ein wenig Zorn und ein wenig Barmherzigkeit; er ist nicht mehr Richter und weniger der Barmherzige. Jedes Attribut Gottes ist in seiner Güte verwurzelt, und wir können auf alle seine Eigenschaften vertrauen. Wenn das nicht so wäre, würden wir uns in einer sehr schwierigen Lage befinden.
Wenn Gott nur allmächtig wäre, würde er dem griechischen Gott Zeus gleichen, der Blitze auf uns herabschleudert, wenn es ihm gerade beliebt. Ein allmächtiger Gott muss auch ein allbarmherziger Gott sein. Vereint ergeben diese Eigenschaften das, was ich Gottes muskuläre Güte nennen. Muskulär ist sie, weil sie beide Enden des Spektrums im Gleichgewicht der Kräfte hält. Seine Güte ist nicht auf der einen Seite sanft und auf der anderen Seite hart; sie ist in beiden Aspekten stark. Lassen Sie es mich veranschaulichen.
In World Challenge verwenden unsere Leiter und Leiterinnen ein sehr bekanntes Missionsbuch mit dem Titel When Helping Hurts (Wenn Helfen wehtut). Es handelt davon, wie etwas, das aus Barmherzigkeit getan wird, bedürftigen Menschen sogar schaden kann, wenn dahinter nicht die Absicht steht, auf eine ausgleichende Gerechtigkeit hinzuarbeiten. Sehen Sie, eine Geldzuwendung oder Sachspende hilft einer verarmten Gruppe von Menschen nur dann, wenn sie ihre Würde und Selbstversorgung fördert, statt sie auf Dauer in der Abhängigkeit zu belassen. Missionswerke haben diese Lektion im Lauf von ,Jahrzehnten auf die harte Tour lernen müssen. Barmherzigkeit ohne eine gerechte Zielsetzung – Gerechtigkeit für die Empfänger – hat wenig Kraft. Die Hilfeleistung sieht barmherzig aus, ist am Ende aber nur eine leere Geste, die eher Abhängigkeit fortschreibt, als Würde zu stärken.
Dasselbe gilt für scheinbar „harte“ Wesensmerkmale Gottes, wie zum Beispiel seine gerechten Gerichte. Wir sollten uns freuen, dass Gott gerechte Gerichte ausübt; ohne sie würde die Zerstörung durch das Böse sich ungehindert ausbreiten. Ohne die gerechte Absicht der Alliierten Mächte, dem Bösen des Nazi-Terrors Einhalt zu gebieten, hätte der Holocaust noch unzählig viel mehr Menschenleben gefordert.
Die vermeintlich „sanfteren“ Eigenschaften Gottes sind also kein Ausdruck von Schwäche, und die „härteren“ Wesenszüge bedeuten keine starre Strenge. Alle Attribute Gottes sind in seinem einen, in höchstem Maße guten Wesen vereint und finden in seiner Güte ihren vollen Ausdruck.
Manche Gemeindebewegungen bauen ihre ganze Lehre auf einigen Eigenschaften Gottes auf, die sie sich herauspicken, während sie seine anderen Eigenschaften ignorieren
Das sogenannte Wohlstandsevangelium betont vor allem eine Art positives Denken, das sich nur darauf konzentriert, die angenehmen Dinge des Lebens zu erhalten. In solchen Kreisen werden alle Herausforderungen als Anfechtungen Satans verstanden, die es zu leugnen und abzuweisen gilt. Der Apostel Paulus predigte eine ganz andere Auffassung über unsere Anfechtungen. Er bezeugte der Gemeinde in Ephesus, dass der Heilige Geist ihn direkt in Situationen führen würde, die großes Leid mit sich bringen würden. „Nun gehe ich nach Jerusalem, unwiderstehlich gezogen vom Heiligen Geist, ohne genau zu wissen, was mich dort erwartet, obwohl der Heilige Geist mir in jeder Stadt gesagt hat, dass mich Gefangenschaft und Leid erwarten“ (Apostelgeschichte 20,22-23).
Paulus wusste, dass Leiden zum christlichen Leben dazugehören. Sie sind sogar ein wesentlicher Aspekt unserer Nachfolge Christi, in der wir unser Kreuz aufnehmen. Deshalb sagte Paulus, dass wir den ganzen Ratschluss Gottes befolgen müssen, und nicht nur die Aspekte, die uns angenehm sind. „Ich habe nicht unterlassen, euch den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen“ (Vers 27; LU). Dass Paulus das ganze Evangelium predigte, gab ihm ein reines Gewissen vor Gott und stärkte seine Autorität.
Manche verstehen das großzügige Geben Gottes als Ausdruck seiner Güte. Gottes Güte kann aber oft bedeuten, dass er uns Dinge, die uns gut erscheinen, vorenthält, obwohl wir ihn inständig darum bitten. Jesus beschreibt Gottes Großzügigkeit, wenn er sagt: „Gibt es einen Vater, der seinem Kind eine Schlange hinhält, wenn es um einen Fisch bittet?“ (Lukas 11,11). Was ist aber, wenn wir den Vater um etwas bitten, das nur ein trügerisches Scheinbild seiner Güte ist? Sollen wir erwarten, dass Gott es uns gibt? In diesem Fall ist Gott, wenn er das Erbetene zurückhält, genauso gütig wie in anderen Fällen, in denen er unsere Bitte gewährt. Das ist die liebevolle Erziehung eines fürsorglichen, umsichtigen Vaters. Während er uns vor dem Trügerischen bewahrt, hält er für uns das bereit, das ganzheitlich gut ist.
Der ganze Ratschluss Gottes ist auch in einer anderen Hinsicht wesentlich. Wenn wir dazu neigen, einen bestimmten Aspekt seines Charakters zu meiden, offenbart der ganze Ratschluss Gottes, dass unsere Verkün- digung unvollständig ist. Wenn ich zum Beispiel nur von der Gnade Gottes spreche, aber seine Gerechtigkeit verschweige, verliere ich einen großen Teil meiner Autorität.
Dasselbe kann bei rigiden, überzogenen Heiligungsbewegungen geschehen, die menschliches Vergnügen verneinen. Wenn sie einen heiligen Gott predigen, dem wir nie genügen können und der nur richtet und ohne barmherzige Liebe Angst verbreitet, geht das wahre Bekenntnis der barmherzigen Liebe und Gnade Gottes verloren.
Biblische Personen beider Testamente wussten das. Sie erlebten die gütige Liebe Gottes, fielen aber trotzdem in ehrfürchtigem Schrecken auf ihr Angesicht, wenn sie mit seiner heiligen Gegenwart konfrontiert waren. Der gerechte Prophet Jesaja rief in der Begegnung mit Gott aus: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen“ (Jesaja 6,5; LU). Etwas Ähnliches geschah Jahrhunderte später auf dem Berg der Verklä-ung, als der Vater vom Himmel her sprach. Als er erklärte: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich meine Freude habe. Hört auf ihn“, fürchteten sich die anwesenden Jünger; sie „erschraken zu Tode und fielen mit dem Gesicht voran auf die Erde“ (Matthäus 17,5- 6). Es ist eine Begegnung, die erschreckt und doch zugleich Gottes Güte wiederspiegelt.
Nur wenn Gottes Eigenschaften als Einheit gesehen werden – er ist Richter und vergibt, er ist gerecht und gnädig, transzendent und immanent, heilig und barmherzig –, bezeugen wir das ganze Evangelium mit voller Autorität. Gottes Güte ist weder „soft“ noch „hart“; sie ist tief, ganzheitlich und mächtig. Auch wenn sie unser menschliches Fassungsvermögen übersteigt, wirkt sie ganzheitlich und mächtig sein gutes Werk in uns auf praktische Art und Weise.
Wie ändern wir beim Lesen der Bibel unseren Fokus von „Was habe ich davon?“ zu „Was sagt mir das über den in höchstem Maße guten Gott?“
Wir müssen den Heiligen Geist bitten, uns eine neue „Brille“ zu geben, durch die wir die Bibel lesen. Die Bibel ist kein Anleitungsbuch, um Segen zu empfangen. Es ist ein Buch über Gott, der in seinem ganzen Wesen gut ist, und das, was die Bibel darüber sagt, ist ernst.
Denken wir an den reichen jungen Mann, der ein so perfektes und gutes Leben geführt hatte, wie es einem Menschen nur möglich war. Was geschah, als er zu Jesus kam? „Als er weiterziehen wollte, lief ein Mann auf Jesus zu, kniete vor ihm nieder und fragte: ‚Guter Lehrer, was soll ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?‘ ‚Warum nennst du mich gut?‘, fragte Jesus. ;Nur Gott allein ist gut.‘“ (Markus 10,17-18).
Wir wissen natürlich, dass Jesus gut ist; er ist eine Person der Gottheit! Doch dieser junge Mann kannte Jesus offenbar nur als Lehrer und wusste nichts von seiner Gottheit. Also sprach Christus ihn entsprechend an und erklärte, dass nur Gott allein gut ist. Dann stellte Jesus die Wahrheit dieser Aussage unter Beweis. Als er dem Mann eine liebevolle Herausforderung gab, hielt die lebenslange Güte des jungen Mannes nicht stand.
„‚Eins fehlt dir noch ... Geh und verkaufe alles, was du hast, und gib das Geld den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Danach komm und folge mir nach.“ Als er das hörte, verdüsterte sich das Gesicht des Mannes, und er ging traurig fort, denn er war sehr reich“ (Verse 21-22).
Freunde, wenn Jesus uns sagt, dass es im ganzen Universum nur eine einzige gute Person gibt, sollten wir das ernstnehmen. Und doch begegnet uns diese eine Person selbst dann mit Güte, wenn wir scheitern. „Da sah Jesus den Mann voller Liebe an“ (Vers 21).
Das führt mich zu meinem letzten Punkt über die „muskuläre Güte“ Gottes und den ganzen Ratschluss seines Wortes. Wenn wir über Buße und Umkehr sprechen, stellen wir uns darunter meistens eine strenge Überführung durch den Heiligen Geist vor, der unsere Herzen erfasst und uns seufzen und stöhnen lässt. Für viele Christen gehört Buße zur „harten“ Kategorie der Eigenschaften Gottes. Wieder kommt Paulus uns zu Hilfe, indem er predigt: „Begreifst du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will?“ (Römer 2,4; LU). Gott möchte, dass seine Eigenschaften der Güte und
Barmherzigkeit uns zur Umkehr bewegen, bevor wir seine gerechten Gerichte und seinen heiligen Zorn erfahren.
Unser Gott ist vollständig gut, und er kann wählen, auf welche Weise er uns zur Umkehr führen möchte (was schließlich einfach bedeutet, eine Kehrtwendung zu machen und in die andere Richtung zu gehen). Es ist an der Zeit, sowohl seine erziehende Strenge als auch seine Liebe anzunehmen, denn beide sind Teil des einen in höchstem Maße guten Gottes. Das ist in der Tat eine gute Nachricht.