Jesus lieben
Wenn man lange genug im geistlichen Dienst war, merkt man es, wenn sich in der Lehre der Gemeinde ein Schwerpunkt verändert. Manchmal steht ein bestimmtes Thema eine Weile im Mittelpunkt; doch dann schlägt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus.
Das ist gewöhnlich gut so. Wann immer ein neuer Schwerpunkt auftaucht, liegt der Grund meist darin, dass der Gemeinde in diesem Bereich etwas fehlte. Wir sehen das überall in den Briefen von Paulus. Zuerst ermutigt er Christen zu aufopferndem Geben und im nächsten Moment tadelt er Werke, die aus religiöser Gesetzlichkeit geschehen. Er betont die unendliche, überfließende Gnade Gottes, um sofort darauf gewissenlose Sünde zu tadeln, verbunden mit der Anweisung, zügellose Christen dem Teufel auszusetzen, damit sie umkehren. Natürlich steht hinter allen diesen Lehren die Kraft des Heiligen Geistes. Und jede ist in den verschiedenen Phasen unseres Lebens für uns von Bedeutung.
Seit mehreren Jahren betonten die Predigten, die ich hier geschrieben habe, Gottes unfassbare Liebe zu seinem Volk. Es schien mir wichtig, Sie in dieser Weise zu ermutigen, denn ich habe so viele gesehen und von so vielen gehört, die in einem endlosen Kreislauf der Selbstverurteilung stecken bleiben. Viele Christen fühlen sich wertlos in Gottes Augen, weil sie denken, dass ihre Schwierigkeiten sie für den Dienst im Reich Gottes disqualifizieren, zu dem er sie berufen hat.
Mein Schwerpunkt war: Wir können ihm nicht dienen, solange wir nicht die Tiefe seiner Liebe erkannt haben. Johannes formuliert es so: „Wir aber lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (1. Johannes 4,19; Zürcher).
Ich gehe davon aus, dass diese Lehre für Sie nützlich war. Vielleicht haben Sie dann im Verlauf des vergangenen Jahres einen leichten Umschwung des Pendels wahrgenommen. Ich habe viel darüber geschrieben, die Werke Jesu zu tun. Hier geht es darum, die Liebe, die Gott uns erwiesen hat, selbst zu verkörpern. Mit anderen Worten: Ja, es ist unbedingt nötig, die Liebe des Herrn in unserem Herzen zu empfangen – und es ist auch wichtig, seine Liebe zu erwidern.
Wir wurden tatsächlich berufen, Gott zu lieben, wie er uns liebt
Wie sieht das genau aus? Es gibt keine bessere biblische Veranschaulichung als die Szene, in der Jesus bei einem Pharisäer zu Gast ist, als plötzlich eine „Frau von der Straße“ erscheint.
„Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl“ (Lukas 7,36-38).
Für mich ist das eine der bewegendsten Szenen im ganzen Wort Gottes. Es ist eine ungewöhnliche Situation: Eine Frau, von der wir annehmen können, dass es sich um eine Prostituierte handelte, dringt in die Abendgesellschaft eines herausragenden religiösen Leiters ein. Es ist ein peinlicher Moment – aber er hat ganz und gar mit dem zu tun, was Johannes schrieb: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Der folgende Abschnitt erklärt den Grund.
„Da aber das der Pharisäer sah, der ihn [Jesus] eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es!
Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt“ (Lukas 7,39-43).
Der Punkt, den Jesus Simon zu verstehen gibt, ist klar. Er erklärt: „Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“ (Vers 47).
Diese Frau, emotional gezeichnet von dem Leben, das sie führte, spürte die liebevolle Gnade Gottes so stark, dass sie gar nicht anders konnte, als seine Liebe zu erwidern. Deshalb wählte sie eine aufopfernde Geste der Liebe – eine, die sie sehr viel kostete. Mit Freude zahlte sie den Preis, nicht nur im Blick auf das kostspielige Salböl, sondern auch im Blick auf ihre eigene Würde. Vor den Augen der Anwesenden weinend, kniete sie sich vor Jesus hin und wusch ihm die Füße.
Was für ein zutiefst intimer Moment; diese Frau legte ihr Herz mit solcher Offenheit bloß, dass es die anderen Gäste am Tisch in Verlegenheit bringen musste. Doch Jesus setzte es zu einem Gedächtnis für folgende Generationen. Es liegt eine Botschaft liebevoller Gnade in dieser Szene, doch diese Gnade gilt nicht nur der sündigen Frau – sie gilt vor allem Simon, dem Pharisäer.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich identifiziere mich in dieser Geschichte vor allem mit Simon
Niemand hält sich selbst gern für einen typischen Pharisäer – das waren rigide, moralistische Leute, von denen die meisten sich Jesus widersetzten. Doch wie mehrere christliche Verfasser unterstreichen, sind sie es, denen wir am meisten gleichen. Nicht, weil wir uns Jesus widersetzen würden, sondern weil wir genau so angestrengt versuchen, ein anständiges Leben zu führen. Und weil wir – seien wir ehrlich –nur selten wahrnehmen, wie sehr wir selbst Vergebung nötig haben.
Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber 95 Prozent meiner innigen Begegnungen mit Gott beruhen darauf, dass er die Initiative ergreift und ich darauf antworte. Seine Liebe erreicht mich auf irgendeine Weise – etwa in der Anbetung im Gottesdienst, wenn ich meine Hände zu ihm erhebe, oder während ich an einer Predigt arbeite und er mir begegnet, um mir ein passendes Wort zu geben. In solchen Momenten erwidere ich seine Liebe mit tiefer Dankbarkeit.
Doch wie ist es im überwiegenden Teil der Zeit? Wie ist es in all den Momenten, in denen wir kein Anbetungsteam vor uns haben und keine göttliche Inspiration unserer Gedanken erfahren?
In den wachen Stunden unseres Alltags sind wir selten geneigt oder veranlasst, Gott zu lieben. Wie oft kommen Sie von sich aus zu Jesus und sagen: „Herr, ich möchte ganz für dich da sein. Ich möchte dir mein Herz ausschütten, weil ich dich so sehr liebe“?
Genau das tat die sündige Frau, als sie zu Simons Tischgesellschaft kam. Es war offensichtlich, dass sie irgendwie Vergebung erfahren hatte. Und an diesem Abend tat sie etwas Außergewöhnliches, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Sie zahlte eine hohe Summe für ein teures Salböl, fand heraus, wo Jesus sich aufhielt, und gab sich vor Fremden eine Blöße, um ihre Dankbarkeit zu zeigen, auch wenn andere sie vielleicht verurteilen würden.
Wie reagierte Simon, der Pharisäer? Das Verhalten der Frau brachte ihn aus der Fassung. Allem Anschein nach war er ein aufrechter Mensch, der ein moralisches, anständiges Leben führte. Damit kann ich mich identifizieren. Ich habe nicht das dramatische Glaubenszeugnis einer ehemaligen Prostituierten, wie die sündige Frau, oder eines ehemaligen Alkoholikers, Drogenhändlern oder Gang-Mitglieds.
Vielleicht sind Sie wie ich – ein Mensch, der in einem guten Haus aufwuchs und in all den Jahren ein moralisches, anständiges Leben führte. Aber Sie verspüren nicht oft den Drang, Jesus Ihre Liebe zu zeigen, wie diese Frau es tat. Warum eigentlich nicht?
Das ist die Frage, die Jesus an Simon richtete. Und er tat es, indem er drei Dinge aufzählte:
„Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“ (Verse 44-47).
Behutsam, aber deutlich gibt Jesus Simon hier zu verstehen: „Vielleicht ist es nicht die Frau, die Vergebung für ‚viele Sünden‘ braucht. Vielleicht bist du derjenige, Simon. Vielleicht liebst du nicht so viel, weil du nicht erkennst, dass du Vergebung brauchst.“
Wie leicht meinen Christen – selbst diejenigen im geistlichen Dienst –, dass sie keine Vergebung brauchen
Wenn ich diesen Abschnitt lese, nehme ich sofort wahr, dass ich derjenige bin, der die Botschaft Jesu hören muss. Doch ich verstehe sein Wort nicht als vorwurfsvolles Gebot, „einfach dankbarer“ zu sein! Es gibt keinen Hinweis, dass Simon etwas anderes als völlig gottesfürchtig gewesen wäre.
Nein, ich verstehe die Worte Jesu an Simon als eine wunderbare Einladung. Es ist eine Einladung, eine nagende Frage zu beantworten, die so viele von uns plagt: „Warum liebe ich Jesus nicht mehr? Und warum empfinde ich nicht mehr Liebe zu ihm? An den meisten Tagen habe ich den Eindruck, meinen Glauben nur äußerlich abzuspulen.“
Glauben Sie mir: Diese Fragen machen vielen zu schaffen, die im geistlichen Dienst stehen. In meiner Familie bin ich Pastor in der sechsten Generation, und diese Tatsache macht mich stolz und demütig zugleich. Jemand wie ich läuft aber leicht Gefahr, tagelang meiner Beschäftigung nachzugehen, ohne dass mir bewusst wird, dass ich Gott brauche. Und meine Sünde in diesem Punkt hat genauso viele Konsequenzen wie die Sünde der Person, die an der Straßenecke Drogen verkauft. Warum? Weil ich Jesus in meinem Herzen vergesse, während die Welt, die er mir über den Weg führt, in der Finsternis trudelt.
Die Schönheit dieser bewegenden Szene im Lukasevangelium liegt darin, dass Jesus uns lehrt, wie wir ihn lieben können. Es überrascht, dass er selbst während seines Gesprächs mit Simon den Blick auf die Frau und ihren unverhohlenen Liebeserweis richtet. „Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon … du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet“ (Vers 44).
Es ist, als würde Jesus sagen: „Das hättest du genauso leicht tun können, Simon. Das Abendessen war köstlich, das theologische Gespräch war großartig, und das sind Geschenke, die ich zu schätzen weiß. Aber was ich wirklich will, ist nur deine Liebe.“
An Weihnachten feiern wir die Liebe des Vaters als das größte Geschenk, das wir je empfangen haben. Wie reagieren wir darauf? Werden wir nur die äußere Form eines christlichen Lebens wahren? Oder wird seine erstaunliche Gnade für uns – eine gute Arbeitsstelle, eine liebevolle Familie, geborgene und fröhliche Kinder – uns auf die Knie bringen, um seine Füße mit Tränen der Dankbarkeit zu benetzen?
Ich stelle Ihnen dieselbe Frage, die ich mir selbst stelle: „Welchen Ausdruck werde ich finden, um seine Liebe zu erwidern? Um aus eigenem Antrieb die innige Beziehung zu dem Heiland und Herrn zu suchen, der mich so sehr liebt?“ Jeder Person, die „gut und anständig“ ist wie ich, sage ich: Wir sind berufen, die Flamme der Liebe Gottes auszubreiten. Doch wir können nicht weitergeben, was wir nicht haben. Ich bitte Sie inständig: Empfangen Sie seine Liebe – und antworten Sie unmittelbar darauf. Das ist die tiefste Bedeutung des Empfangens und Gebens – und es ist der Beginn eines zutiefst erfüllten Lebens. Mögen Sie in diesem Jahr mehr als je zuvor in inniger Beziehung zu Ihrem gnädigen, liebenden Herrn und Heiland leben. Amen!