Den Stein wegrollen

David Wilkerson (1931-2011)

Ich bin überzeugt, dass wir Gottes Wort nicht völlig gehorchen können, solange wir nicht verstehen, warum der Herr vollkommenen Gehorsam fordert. Warum verlangt Gott dies? Ist er etwa ein Despot, ein Tyrann, der Freude daran hat, seinem Volk ein drückendes Joch und schwere Lasten aufzubürden? Nein, ganz und gar nicht. Jesus Christus sagt uns, dass die Last, die er uns auflegt, leicht und sanft ist (Matthäus 11,30). Seine Gebote sind nicht schwer.

Verlangt Gott also vollkommenen Gehorsam, weil es ihn irgendwie beschwichtigt? Gewiss nicht. Unser Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen dient nicht einfach seinem Wohlbefinden. Gott geht es nicht um eigene Bedürfnisse, wenn er von uns erwartet, dass wir seinen Weisungen folgen.

Unser vollkommener Gehorsam hat aber dennoch etwas mit seiner Freude zu tun. Es macht ihm große Freude, wenn er die Frucht sieht, die unser Gehorsam bringt. Unser Herr ist darin wie jeder Vater: Er liebt es, wenn seine Kinder dadurch, dass sie seinen Weisungen folgen, gesegnet sind und reifer werden.

Unter dem Alten Bund führte Israels Gehorsam zu guten Früchten und einem vielfältigen greifbaren Segen: „Und ihr sollt dem HERRN, eurem Gott, dienen: so wird er dein Brot und dein Wasser segnen, und ich werde alle Krankheit aus deiner Mitte entfernen. Keine Frau in deinem Land wird eine Fehlgeburt haben oder unfruchtbar sein; die Zahl deiner Tage werde ich erfüllen“ (2. Mose 23,25-26).

Große Fruchtbarkeit war die Belohnung für Israels Gehorsam. Gott sagte den Israeliten, dass sie spürbaren, materiellen Segen empfangen würden, wenn sie seine Gebote befolgten. Sie würden ihre Herden wachsen, ihre Weinberge gedeihen und ihren Getreide-Ertrag steigen sehen. Sie würden günstiges Wetter, gute Kleidung, schöne Wohnungen und persönliche Sicherheit genießen. Ihr Gehorsam würde auch einen starken geistlichen Segen mit sich bringen, verbunden mit Offenbarungen der Herrlichkeit Gottes.

Doch so unfassbar es ist, ächzten die Israeliten unter Gottes Gesetz. Sie lehnten sich gegen genau die Gebote auf, die dazu bestimmt waren, sie stark und siegreich zu machen und gedeihen zu lassen. Gottes Gebote waren unverkennbar zu ihrem Wohl bestimmt, aber sie lehnten sie trotzdem ab!

 

Im Neuen Testament stellten auch einige der treusten Nachfolger des Herrn seine Anweisungen in Frage

Die Jünger hatten jeden Grund, die folgende Anweisung Jesu in Frage zu stellen: „Danach erst spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen. Die Jünger sagen zu ihm: Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wieder gehst du dahin?“ (Johannes 11,7-8). Die Jünger konnten nicht glauben, was Jesus von ihnen erwartete. Als sie das letzte Mal in Judäa gewesen waren, hatten die Menschen dort versucht, ihn zu töten. Zweifellos würden sie es erneut versuchen, wenn er jetzt dorthin zurückkehrte.

Jesus Christus antwortete ihnen: „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafena; aber ich gehe hin, damit ich ihn aufwecke“ (Vers 11). Was antworteten die Jünger? „Herr, wenn er eingeschlafen ist, so wird er geheilt werden“ (Vers 12). Daraufhin erklärte Jesus ihnen, dass Lazarus gestorben war. Das muss die Jünger noch mehr verwirrt haben. Warum sich wieder in Gefahr begeben, wenn Lazarus seinen Kampf gegen die Krankheit schon verloren hatte?

Ihr Herr hatte seinen Nachfolgern ein klares Wort, eine definitive Anweisung gegeben. Doch die ängstlichen, verwirrten Jünger hatten eine ganze Reihe von Einwänden, warum sie seine Anweisung nicht befolgen sollten. Sie hatten natürlich die Gefahr vor Augen, die Gefahr sfür sich selbst und für ihren Meister. Und so sahen sie keinen Sinn in dem, was Jesus verlangte.

Viele treue Christen reagieren heute genauso, wenn sie eine ähnlich absurde Anweisung vom Herrn hören. Manchmal sagt uns der Heilige Geist etwas, das zwar nicht der Bibel widerspricht, aber uns einfach unverständlich erscheint. Wir denken: „Das kann kein Wort von Gott sein. Es muss aus mir selbst kommen, aus meinen eigenen Gedanken.“ Und dann finden wir rasch einen passenden Bibelabschnitt, um dieser Anweisung nicht zu folgen. Dabei versucht der Heilige Geist die ganze Zeit, zu uns durchzudringen, damit wir den darin liegenden Segen empfangen.

Was Jesus als Nächstes zu seinen Jüngern sagte, hat tiefe Bedeutung für uns heute

Jesus erklärte seinen Nachfolgern: „Ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm gehen“ (Johannes 11,15). Christus ließ sie wissen: „Ich bin froh, dass ich nicht gegangen bin, als ich an Lazarus‘ Krankenbett gerufen wurde. Ich hatte einen Grund, noch zu warten, und dieser Grund hat nichts mit Lazarus zu tun. Es geht vielmehr um euch, meine Freunde. Es dient alles dazu, euren Glauben zu läutern. Ich werde euch die größte Unmöglichkeit, die die Menschheit je gesehen hat, mit eigenen Augen sehen lassen. Und um das erfassen zu können, werdet ihr großen Glauben brauchen.“

Jesus wusste, dass seine Jünger bereits erlebt hatten, wie er Menschen vom Tod auferweckte – sie hatten zugesehen, als er ein kleines Mädchen heilte, das seit mehreren Stunden tot war. Doch er wusste auch, dass seine Jünger nie erlebt hatten, wie jemand auferweckt wurde, der schon seit vier Tagen tot war und dessen Körper bereits verweste. Ihr jetziger Unglaube war ein Hindernis für den Glauben, den er in ihnen wecken wollte.

Dies erkennen wir in der Reaktion von Marta, der Schwester von Lazarus, als Jesus endlich eintraf. Sie sagte: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Vers 21). Marta glaubte, dass Jesus hätte helfen können, solange bei ihrem Bruder noch irgendein Lebenszeichen erkennbar war. Sie hatte zwar das Vertrauen, dass er einen dem Tode nahen Menschen heilen konnte, glaubte aber nicht, dass er jemanden heilen konnte, der schon vier Tage tot war.

Ich denke, dass Marta die Einstellung der meisten Christen heute verkörpert. Wir akzeptieren, dass Gott Wunder für uns tun kann,
solange es noch einen Funken Hoffnung in unserer Situation gibt. Doch was geschieht mit unserem Glauben, wenn der Herr uns mit völlig ausweglosen Umständen konfrontiert, die sein übernatürliches, Wunder wirkendes Eingreifen erforderlich machen?

Marta bezweifelte, dass ihr Herr fähig war, für ihren verstorbenen Bruder ein Wunder zu tun. In ähnlicher Weise zweifelten seine Jünger an seiner Macht, sie vor der drohenden Gefahr in Judäa zu bewahren. Niemand traute dem Herrn zu, das Unmögliche zu bewirken. Sie alle hatten nicht die Spur eines Glaubens, dass er ihnen in der jeweiligen Situation helfen könnte.

Jetzt kommen wir zu dem, was ich „Krisenerfahrung“ nenne

Unsere Krise kommt, wenn der Herr uns auf etwas in unserem Leben anspricht, das wir loslassen müssen. Es ist eine Abhängigkeit, die uns Jahr für Jahr beherrscht, ohne dass wir davon frei werden. Sie haftet uns an, als wären es Grabtücher des Todes. Um unserem Herrn vollkommen zu gehorchen, müssen wir diese Abhängigkeit ablegen, loslassen und frei von ihr weiterleben. Unser Festhalten daran ist ein Zeichen des Unglaubens. Wir vertrauen einfach nicht darauf, dass der Herr aus unserem Gehorsam gegenüber seinem Wort Leben als Frucht hervorbringen kann.

Tatsache ist, dass er uns alle Macht und Mittel bereitgestellt hat, die wir brauchen, um ihm durch die Gegenwart seines Heiligen Geistes in uns vollkommen zu gehorchen. „Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben, wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben“ (Römer 8,13). Lazarus repräsentiert hier mehr als einen toten Leib; er steht für zwei Dinge:

Lazarus steht für die Ketten, die Gefangenschaft und den Geruch des Todes. Er ist ein Symbol für die Finsternis, die das hoffnungslose Begräbnis der Freiheit überschattet. Paulus hätte sich auf Lazarus beziehen können, als er schrieb: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?“ (Römer 7,24).

Der im Grab liegende Lazarus deutet auch auf die Offenbarung Jesu Christi hin. Er weist hin auf die Herrlichkeit Gottes, die sich vor der ganzen Menschheit offenbar, als eine Person, die von der Herrschaft der Sünde völlig frei ist. Er steht für das Auferstehungsleben und die Freiheit von der tödlichen Umklammerung kontrollierender Abhängigkeiten.

Viele Christen heute bleiben in der Krise stehen. Ein großer Stein steht im Weg, und das ist der Unglaube. Am Grab von Lazarus protestierte Marta: „Herr, er riecht schon, denn er ist vier Tage hier“ (Johannes 11,39). Viele Christen heute haben dieselbe Denkweise im Blick auf ihre eigenen Abhängigkeiten. Sie reden sich selbst ein: „Diese Sünde haftet mir schon zu lange an. Ich habe wirklich versucht, von ihr frei zu werden, aber alle meine Bemühungen waren vergebens. Diese Sünde hat mich zu sehr im Griff.“

Nein! Gottes Offenbarung, die er Ihnen über sein Auferstehungsleben gibt, liegt in jenem Grab, eingewickelt in den Unglauben. Gerade jetzt sagt Jesus Ihnen dasselbe wie damals seiner Jüngerin: „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ (Vers 40).

Als Jesus zu Lazarus‘ Grab kam, rief er aus: „Nehmt den Stein weg!“ Mit diesen wenigen Worten sagte er auch uns: „Willst du Befreiung sehen, willst du frei werden? Ich habe einen Bund mit dir geschlossen. Nun rolle den Stein weg. Lege deinen Unglauben ab. Das zu tun, liegt in deiner Macht.”

Er ließ keine Engel kommen, um den Stein wegzurollen. Er befahl Menschen, es mit eigener Hand zu tun. Als sie den Stein wegrollten, war es ein Akt des Glaubens, und sie erlebten die Herrlichkeit Gottes. Lazarus kam heraus, und die Grabtücher des Todes lösten sich von seinem Körper, der nun wieder lebendig war.

Heute, wenn Sie Ihren Stein des Unglaubens wegrollen, wird die Auferstehungskraft Christi in Ihnen wirksam. Ein bloßes Wort vom Herrn genügt, und alle Lumpen eigener Anstrengungen werden von Ihnen abfallen. Und Sie werden vor Freude springen, als Zeugnis für die Welt, und rufen: „Herr, dein Wort ist immer wahr. Mit dir wird nichts unmöglich sein!“ Amen.